Eigentlich ist Helmut Kohl an allem schuld. Wäre er nicht so lange Kanzler gewesen, könnte ich diese Geschichte nicht aufschreiben. Und hätte er nicht 1998 bei der Bundestagswahl haushoch verloren, hätte ich vermutlich nie ein Kapital für ein Lehrbuch geschrieben: den Abschnitt über seinen Nachfolger Gerhard Schröder in „Das Wort hat der Herr Bundeskanzler“ (Westdeutscher Verlag 2002).
Was Helmut Kohl dafür kann
Den Tag, an dem Helmut Kohl abgewählt wurde, habe ich verpasst. Es war der 27. September 1998 und ich auf dem Weg nach Glasgow. Ein aufregendes Jahr lag vor mir: meine Erasmus-Zeit an der viertältesten Universität Großbritanniens. In wenigen Tagen sollte das erste Trimester des Studienjahres 1998/99 losgehen, und ich wollte früh genug da sein, um mir alles in Ruhe anzusehen und mich in meinem Wohnheimzimmer einzurichten.
Klar war mir nicht entgangen, dass der 27. September der Wahlsonntag des Jahres 1998 war – die zweite Bundestagswahl übrigens, an der ich teilnehmen durfte. Mir ging es aber wie vielen Menschen meines Alters damals, die sich kaum daran erinnern konnten, dass vor Helmut Kohl mal Helmut Schmidt Kanzler gewesen war. Ich hatte natürlich vor meiner Abreise meine Stimme abgegeben; per Briefwahl, damit ich am Wahltag nicht erst noch ins Wahllokal musste, bevor ich mich auf den Weg zum Flughafen machte.
Und sicher war ich wie viele andere der Ansicht: 16 Jahre Helmut Kohl sind genug. Zeit für etwas Neues. Für einen Neuen. Aber wirklich groß drüber nachgedacht habe ich nicht. Ich war zu sehr mit dem beschäftigt, was in den nächsten Monaten vor mir lag. Und so war es eher Zufall, dass ich beim Umsteigen irgendwo mitten in England auf einen Bildschirm mit einem Live-Bericht der BBC blickte. Kohl sah ziemlich fertig aus. Gerhard Schröder kam auch drin vor. Irgendwas hatte sich seit meinem Abflug am selben Nachmittag in Deutschland verändert.
Dass es ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik war, war mir an dem Abend einigermaßen egal. Erst später wurde mir die Dimension klar: Erstmals war eine amtierende Regierungskoalition komplett abgewählt worden. Ein Machtwechsel stand bevor: Zwei bisherige Oppositionsparteien hatten genug Stimmen bekommen, um nach 16 Jahren Kohl die Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Ein Ausflug nach Berlin
Im Nachhinein habe mich etwas geärgert, dass ich diesen historischen Moment im Wortsinn nur im Vorübergehen wahrgenommen habe. Die folgenden Koalitionsverhandlungen habe ich von Glasgow aus zwar ein bisschen mitverfolgt. Aber damals war kaum jemand rund um die Uhr online, schon gar nicht im Wohnheim und wenn es darum ging, das schottische Studentenleben jenseits der Hörsäle zu erkunden.
So ist mir dann noch ein historisches Ereignis entgangen: die Antrittsrede des ersten Bundeskanzlers einer rot-grünen Koalition. Zum Glück jedoch gab es an der Uni Köln im Wintersemester 1999/2000 ein spannendes Hauptseminar zum Thema politischen Reden bei Karl-Rudolf Korte, in dem es unter anderem um erste große Reden von Spitzenpolitikern ging.
In diesem Rahmen sind wir Anfang Dezember 1999 nach Berlin gereist, gesponsort vom verdiente-Genossen-aus-dem-Wahlkreis-dürfen-nach-Berlin-reisen-Budget einer SPD-Abgeordneten aus dem Kölner Umland. Besuch des SPD-Parteitags und Abstieg im Fünf-Sterne-Hotel inklusive. Gesprochen haben wir unter anderem mit dem damaligen Vize-Regierungssprecher von Gerhard Schröder, Thomas Steg, und den einstigen Schreibern von Helmut Schmidt und Willy Brandt, Thilo von Trotha und Klaus Happrecht.
Ein Buch entsteht
Ein gutes Jahr später hatte Karl-Rudolf Korte dann die Idee, aus dem Reden-Thema mit einer Handvoll Politik-Studenten ein kleines Forschungsprojekt zu starten, an dessen Ende 2002 eine Publikation zu den Antritts-Regierungserklärungen aller deutschen Bundeskanzler stehen sollte: Das Wort hat der Herr Bundeskanzler – Eine Analyse der Großen Regierungserklärungen von Adenauer bis Schröder.
Mein Thema, mein Kapitel: Gerhard Schröder und die Neue Mitte. Nach intensiver Recherche und Gesprächen unter anderem mit Schröders Redenschreiber Reinhard Hesse entstand meine Analyse der ersten großen Regierungserklärung des dritten und bislang letzten SPD-Kanzlers in der Geschichte der Bundesrepublik. Der befand sich bei Erscheinen des Buches übrigens schon im Wiederwahlkampf, den er 2002 gegen Edmund Stoiber gewann.
Ende 2002 waren unser Herausgeber, einige meiner Mit-Autoren und ich dann anlässlich der zweiten Amtszeit von Schröder und seiner erneuten Antrittsrede als Kanzler, noch einmal in Berlin. Im ehemaligen Staatsratsgebäude mit dem Portal des Berliner Schlosses gab es eine Deutschlandfunk-Diskussion, die unser Herausgeber geschickt zur Buchpräsention nutzte.
Übrigens, Herr Korte, falls Sie diesen Text jemals lesen: Mein Angebot, für eine Neuauflage des Buches das Angela-Merkel-Kapitel zu schreiben, steht noch…
Karl-Rudolf Korte (Hrsg.): „Das Wort hat der Herr Bundeskanzler“
Eine Analyse der Großen Regierungserklärungen von Adenauer bis Schröder. 479 Seiten. ISBN 3-531-13695-x. 34,90 Euro. Westdeutscher Verlag 2002